Rosana Ricalde

Trama e Urdidura – Weft and Warp

17.09.2021– 20.11.2021

 

 

 

Das Leben besteht aus Geschichten. Unablässig erzählen wir uns – im Dialog oder im stillen Selbstgespräch – wer wir sind, wer wir waren, wer wir sein werden. Diese Geschichten weben die Fäden des Seins. In den alten Mythen geschieht das ganz buchstäblich. Die griechischen Moiren oder römischen Parzen – sie weben im Verborgenen die Fäden des Lebens. Rosana Ricalde nimmt diese mythologischen Fäden auf und verarbeitet sie in ihren künstlerischen Arbeiten. Nicht mit Spindel und Rocken, Nadel und Faden oder – wie der Titel der Ausstellung verheisst – „Kette und Schuss“, sondern mit Pinsel und Farbe.

 

Die brasilianische Künstlerin Rosana Ricalde wurde 1971 in Niterói geboren. Sie lebt und arbeitet heute in Coimbra, Portugal. Ricalde hat an der School of Fine Arts, Universidade Federal do Rio de Janeiro die traditionsreiche und schwierige Kunst des Kupferstichs erlernt. Rosana Ricalde hat ihre Arbeiten in zahlreichen Ausstellungen in ganz Lateinamerika - insbesondere in ihrem Heimatland Brasilien - sowie in internationalen Metropolen wie Tokyo, Lissabon, Paris oder Oslo gezeigt. 2011 war sie durch die Baró Galeria, São Paulo, an der Art Positions der Art Basel Miami Beach vertreten. Anlässlich der Olympiade in Rio de Janeiro 2017 zeigte sie zusammen mit dem brasilianischen Künstler Felipe Barosso eine Installation von farbenfrohen Skulpturen im Musée Olympique in Lausanne. Ihre Werke sind zudem in öffentlichen und privaten Sammlungen auf der ganzen Welt vertreten: So etwa in Brasilien, Portugal, Spanien, Dubai und der Schweiz.

 

Geschichte und Geschichten, Erzählungen und Erinnerungen. Die mythischen Fäden der Moiren verbildlichen, was eigentlich nur schwer zu fassen ist: den Faden der Ereignisse, die Lebenslinien, den Strom des Bewusstseins, der alles durchzieht und durchfliesst. Ihre Fäden sind es, die die Dinge erst wirklich werden lassen und die doch selbst immer unsichtbar bleiben. Rosana Ricalde greift dieses Erzählen als Motor des Lebens auf. In ihren früheren Arbeiten verwendet sie Zeilen aus Texten von Italo Calvino, José Saramago, Emily Dickinson und Michel Foucault. Textmuster und Webmuster gehen ineinander über. Sinn und Struktur. Text und Textur. In den Arbeiten von Rosana Ricalde werden die Grenzen von visueller Poesie und Zeichnung durchlässig.

 

Die jüngsten Arbeiten Rosana Ricaldes gehen noch einen Schritt weiter. Sie gehen gewissermassen hinter den Text, unter den Text: Die Künstlerin nimmt die unsichtbaren Fäden auf, die gleichsam die Essenz des Lebens sind. Mit dem Pinsel geht sie den Webgarnen und Stickfäden nach, mit denen im traditionellen Handwerk nicht nur wärmende und dekorative Stoffe hergestellt, sondern auch Bilder der Welt geschaffen, Geschichten und Geschichte erzählt wurden. Geschichten wie jene vom Paradies. Diesem Ort der Glückseligkeit, der in der islamischen Welt ebenso wie in der christlichen als ein Garten gedacht wird. Die traditionellen persischen Teppiche entstanden als Bilder dieses erquickenden Paradieses mit seinen labenden Wassern und seiner farbigen Blütenpracht, die all jenen Menschen, die an die Monochromie der Wüste gewöhnt sind, wie ein Zauber erscheinen.

 

Rosana Ricalde greift diese Teppichmuster auf und damit auch etwas von der Art und Weise, in der Welt gedacht, Leben erzählt, das Sein geordnet und erklärt wird. In ihren Bildern greift sie auf das Form- und Farbvokabular traditioneller Web- und Stickarbeiten zurück. Sie erschafft mit Pinsel und Farbe üppige florale Dessins und duftige Spitzen, wodurch sich die verborgene Sprache enthüllt, die Geschichten, die mit den Mustern verbunden sind, die die Zeit durchqueren und an andere Zivilisationen, Geschichten und Historien erinnern. 

 

An Geschichten wie jene von Penelope zum Beispiel, die Frau des Odysseus, die auf den verschollen geglaubten Gatten wartet und die unerwünschten Freier, die ihr Haus umlagern, vertröstet, sie werde sich mit einem von ihnen vermählen, wenn ihr Webstück fertig sei – und dann jede Nacht die Arbeit des Tages auflöst. Der Webfaden wird hier zu einem schlau gehandhabten Lebensfaden, der Zeit verlängern, Zeit neu gestalten kann. Ähnlich wie es die schöne Scheherazade in den Märchen aus 1001 Nacht macht, die den Erzählfaden ihrer Geschichten Nacht für Nacht weiter spinnt, um ihren Lebensfaden erhalten zu können.

 

Und so, wie man lesend und hörend den verschlungenen Erzählungen der Scheherazade und den Geschichten um die kluge und listenreiche Penelope folgt, so kann man den farbigen „Fäden“ auf den Bildern Rosana Ricaldes mit den Augen folgen und sehen, wie sich aus der Idee des Lebensfadens die wunderbarsten Muster wirken lassen.

 

Alice Henkes

 

Biography 

Presse text